Leseprobe Es waren wunderbare Zeiten

Unwirklich war es. Die Welt in Schwarz und Weiß. Das Weiß überwog. Selbst der Himmel war fast ebenso weiß wie die schneebedeckte Landschaft. Der Schnee schluckte die Geräusche. Es gab keinen Widerhall, nur dumpfen trockenen Ton.
Wir sind hier eingeschlossen, dachte K. Nichts von hier dringt nach draußen, bis nach Prag. Und der Lärm der Welt bleibt hinter den Hügeln.
Es war gut so.
Die letzten Tage hatte es unablässig geschneit. Die niedrigen Temperaturen ließen den Schnee unangetastet in dicken Schichten auf Feldern, Hausdächern und Baumwipfeln liegen. Mancher Ast bog sich bedenklich unter seiner schweren Last. Schwarz schienen lediglich die Stämme.
Und hell war es. Als leuchtete das Weiß aus sich heraus.
Sie waren bei ihrer täglichen Liegekur auf dem Balkon im ersten Stock der Pension. Unbeweglich lagen sie eingehüllt in mehrere Lagen Decken, Schals um den Hals, K. mit Mütze auf dem Kopf. Wenn man sich nicht bewegte, konnte es schnell kalt werden. Und sie bewegten sich nicht. Nichts bewegte sich. Doch dann begann sich etwas zu bewegen, erst beinahe unmerklich, so klein und leicht waren die Flocken, die ihnen der Himmel schickte.
Aber sie wurden größer und bald schon konnte man sie nicht mehr übersehen. Alles war still und ruhig. Es hätte K. nicht gewundert, hätten die tänzelnd herabtaumelnden Schneekristalle beim Aufkommen auf die Balkonbrüstung kleine zarte Töne verursacht ähnlich einem ganz feinen Glockenspiel. Beinahe konnte er die Klänge hören, wie sie erst einzeln ertönten und sich dann zu einer Melodie vereinigten. So wie wenn man ein Glas leicht mit einem anderen Glas anstieß; gläserne, kristallin reine Klänge wie von einem gläsernen Xylophon. Hypnotisiert von ihrer Choreographie sah K. den Schneeflocken zu. Sie hatten es nicht eilig, nach unten zu kommen und damit ihr scheinbar schwereloses Schweben zu beenden. Manche gar schienen entgegen der allgemeinen Richtung wieder nach oben zu fliegen.
„Haben Sie auch Lust, rauszugehen?“
Erst mit Verzögerung wandte er Fräulein Wohryzek das Gesicht zu. Er sah den Schalk in ihren Augen.
„Wozu rausgehen?“, fragte er zurück. „Bei diesen Unmengen an Schnee kann man nicht einmal einen Spaziergang machen.“
Sie richtete sich auf. „Lieben Sie den Schnee denn nicht? Schon als Kind habe ich es geliebt, mich hineinfallen zu lassen. Besonders wenn er noch ganz frisch ist. Kommen Sie, lassen Sie uns noch ein wenig rausgehen, bevor es wieder dunkel wird!“
Seine Lethargie wich ihrem Übermut, von dem er sich so leicht anstecken ließ und der seine sonst stets wachsame Abwehr scheinbar mühelos überwand. „Also gut. Aber in den Schnee sollten Sie sich nicht fallen lassen, wertes Fräulein, nicht mit Ihrer Krankheit.“
Fräulein Wohryzek war bei seiner Zustimmung bereits aus ihrem Liegestuhl aufgesprungen, er wusste nicht, wie sie sich so schnell aus den Decken hatte schälen können. Ungeduldig wartete sie, bis auch er sich umständlich von den mehreren Schichten befreit hatte. Dann lief sie hinein, zur Treppe und eilte hinab, so dass K. ihr kaum folgen konnte. Sein Herz klopfte von der unerwarteten Bewegung, dem schnellen Aufstehen, seine Lunge kam nicht nach und so rang er nach Atem, als er das Fräulein endlich am Fuße der Treppe einholte.
Sie stand da lächelnd in ihrem purpurroten Mantel. „Geht es?“
Er nickte, das Lächeln erwidernd und sie öffnete die Tür. Er folgte ihr nach draußen und eh er sich versah, stand sie schon auf der Wiese bis zu den Waden im Schnee. Ihr knöchellanger schwarzer Rock stob ihn auf, als sie begann, sich auf einem Bein zu drehen. Die Arme ausgestreckt und den Blick zum Himmel gerichtet lachte sie mit offenem Mund.
K. blieb auf dem geräumten Platz vor dem Haus stehen und beobachtete sie. Eine seiner Schwestern, Valli, hatte eine Spieluhr. Wenn man sie aufzog, drehte sich eine Ballerina in einem weißen Kostüm. An sie erinnerte er sich bei Fräulein Wohryzeks Bewegung. Obwohl diese kein weißes Kleid trug, nein, mit ihrem roten Mantel war sie sogar das einzig Farbige in dieser weißen Landschaft. Schön war es, sie anzusehen. Während sie sich drehte und drehte, fielen die leichten Flocken auf ihr schwarzes Haar.