Leseprobe NEUNZIGERMORD

Aber sag mal, ist dieser nette junge Mann etwa dein Sohn? Damals hattest du noch keine Kinder, das weiß ich noch.“
„Ja, das stimmt. Ich war ja schon um die dreißig, als du zu uns in den Betrieb kamst“, bestätige ich.
„Dann bist du erst spät Mutter geworden, nach der Karriere sozusagen.“
Abwehrend schüttele ich den Kopf. „Äh, nein, das ist – “
Mich unterbrechend legt sie mir eine Hand auf den Arm. „Du, das macht doch nichts. Du warst eben deiner Zeit voraus. Heutzutage machen das alle so. Mit vierzig zum ersten Mal Mutter zu werden, ist nichts Besonderes mehr.“
Die Hand zum Einspruch hebend will ich zum Sprechen ansetzen, als Andreas mir schnell zuvorkommt.
„Es hat mir nie etwas ausgemacht, eine reifere Mutter zu haben als die anderen.“ Amüsiert zwinkert er mir zu. Er scheint Gefallen daran zu finden, meine alte Bekannte im Unklaren zu lassen.
„So so.“ Ihm einen gespielt strafenden Blick zuwerfend beginne ich den Kuchen zu verteilen.
Fröhlich kichernd lobt mich Brigitte: „Den hast du aber gut hingekriegt.“
Ich hebe lächelnd die Augenbrauen. „Ist ein altes Geheimrezept.“
„Ja, der Kuchen sieht auch gut aus“, feixt sie. „Aber eigentlich meinte ich deinen Herrn Sohn.“
„Achso… ja. Ich fürchte, daran habe ich den geringsten Anteil.“ Ich muss mir ein Lachen verkneifen.
„Er kommt wohl mehr nach seinem Vater, was?“, mutmaßt sie vom Einen zum Anderen schauend. „Zumindest sieht er dir nicht ähnlich.“
In den kommenden zwei Stunden sprechen wir viel über unsere gemeinsame Zeit, in der wir uns kennengelernt haben, lästern über den ein oder anderen Kollegen und entdecken gemeinsame Bekannte. Ich erfahre einiges darüber, was sich in Brigittes Leben in der Zwischenzeit getan hat, bis sie auf einmal schockiert auf die große Uhr über dem Regal im Wohnzimmer schaut.
„Um Gottes Willen, ist es schon so spät? Ich muss ja noch einkaufen gehen, bevor meine Gäste kommen!“ Hektisch erhebt sie sich vom Tisch. „Ach, jetzt habe ich die ganze Zeit nur von mir geredet. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, musst du mir mehr von dir erzählen.“
Als wir schon im Flur stehen, um uns zu verabschieden, kommt Richard nach Hause. Noch nach Atem ringend, weil er vermutlich die Treppen statt des Aufzugs genommen hat, reicht er Brigitte die Hand, bevor er mir einen Kuss gibt.
„Ah, Sie müssen der Vater sein! Von Ihnen hat er also das gute Benehmen“, lacht Brigitte.
Richard, der stürmisch von Gustav bedrängt wird und sich ihm gerade zuwenden will, fragt: „Wer? Gustav?“
„Ach, Gustav heißt er“, wiederholt sie neugierig. „Er hat mir seinen Namen gar nicht verraten.“
Richard lacht laut auf, während er Gustav über den Kopf streichelt. „Den verrät er den Wenigsten.“
Verwundert hält Brigitte inne. „Wirklich? Warum?“