Leseprobe Mein Freund Goethe

„Bitte… sage mir: wo bin ich?“, flehte er mich an. Wäre er nicht so ehrlich verzweifelt gewesen, ich hätte ihn einfach stehen lassen und wäre gegangen. Doch langsam begann sich Mitleid in meiner Brust zu regen.
Daher gab ich ihm geduldig Auskunft. „Sie sind in Weimar. Das hier ist der Park an der Ilm und hinter uns befindet sich Goethes Gartenhaus. Sagt Ihnen das was?“
„Also doch. Aber wie anders! Wie anders ist alles! Ich begreife das nicht. Soeben steh ich noch an meinem Pulte über den Akten und da tut es einen Knall…“
„Ja, den Knall habe ich auch gehört“, bestätigte ich ihm. „Bloß dass sie nicht an Ihrem Pult standen, sondern an Goethes.“
Seine großen Augen bohrten sich in meine. „Ich BIN Goethe!“
Es mag unglaublich erscheinen, aber ich zweifelte keinen Augenblick an seiner Wahrhaftigkeit. Vielleicht ein wenig an seinem Geisteszustand, aber nicht daran, dass er ernsthaft glaubte, Goethe zu sein. Darum hielt ich es für das Beste, ihn nicht zusätzlich zu verstören, sondern reichte ihm stattdessen meine Hand. „Carla.“
Er nahm sie vorsichtig in seine weichen Hände, aber nicht um sie zu schütteln, sondern um sie sanft mit einer leichten Verbeugung zum Mund zu führen. Bei seiner Verneigung fiel sein Blick auf meine Beine. Für einen Moment verweilten seine Augen darauf. „Sag, weshalb bist du so merkwürdig gekleidet?“ Seine niedergeschlagenen Lider deuteten einen Anflug von Befangenheit an. Ich begriff nicht, was ihn an meinem Aufzug so beschämte.
„Wie meinen Sie das? Was ist daran merkwürdig?“, fragte ich etwas pikiert zurück.
Er schüttelt ungläubig den Kopf und lächelte. „Aber Mädchen, du bist doch ganz nackt! Siehst du das denn nicht?“
Ich sah an mir hinab. Meine Beine wurden von einem der Hitze angemessenen, kurzen Hosenrock bis zur Hälfte der Oberschenkel verdeckt. Von dort bis zu den Füßen, die in leichten Sandaletten steckten, waren sie tatsächlich nackt. Dennoch hätte das niemand – ausgenommen vielleicht in einer Kirche – als anstößig empfunden. Da fiel mir wieder ein, dass dieser Mann sich für Goethe hielt. Zu dessen Zeit hatten Frauen vermutlich nichts anderes als lange Kleider getragen. Ich musste ihn behutsam mit dem Gedanken vertraut machen, dass die Weltgeschichte schon ein wenig weiter fortgeschritten war.
„Herr Goethe, vielleicht haben Sie es nicht mitgekriegt, aber wir sind inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen und da können Frauen kurze Hosen tragen, ohne dass sich jemand darüber wundert“, sagte ich daher höflich.
Sobald ich seine Reaktion sah, bereute ich meine Belehrung. Abermals entgleisten ihm seine Gesichtszüge und er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Den Blick zum Himmel gerichtet, flehte er: „Gott helf, dass ich den Verstand nicht verlier!“ Ich beobachtete ihn mit zunehmender Ratlosigkeit. Was sollte ich mit diesem Menschen machen? Ihn einfach hier stehen lassen? Er wirkte völlig hilflos, seine Verwirrung echt. Aber an wen konnte ich mich wenden, um ihm zu helfen? Vielleicht an das örtliche Nervenkrankenhaus? Ich kannte mich in Weimar nicht aus, auch wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich zum Hotel zurückzugehen, und ich fühlte mich komplett überfordert.
Ohne Vorwarnung packte er mich an den Oberarmen, Verzweiflung spiegelte sich in seinem Gesicht. „In welchem Jahre befinden wir uns jetzo?“
„2016“, entgegnete ich wahrheitsgemäß.
„Zweitausendsechzehn.“ Er wiederholte es flüsternd Silbe für Silbe. „Wahrhaftig? Ich bin im Jahre 2016?“
„Ja.“ Am liebsten hätte ich mich noch dafür entschuldigt, so leid tat er mir. Nur dafür konnte ich nun wirklich nichts. „Was dachten Sie denn?“
Er musterte mich eindringlich, seine Hände immer noch im Klammergriff um meine Oberarme. „Siebzehnhundertsechsundsiebzig.“
Einen Moment standen wir uns gegenüber und sahen uns wortlos in die Augen. Dann ließ er mich los und rief mit ausgebreiteten Armen: „Heute ist Dienstag, 27. August 1776, frühe um zehn!“
Die beiden Spaziergänger, die ich vorhin in der Ferne wahrgenommen hatte, kamen gerade an uns vorüber und wandten interessiert die Köpfe zu meinem Gesprächspartner. Ich wartete, bis sie endlich weitergegangen waren und sagte leise: „Heute ist Sonntag, der 21. August 2016, abends um sechs.“