Leseprobe Fromm II

Es hatte an die 20 Grad. Die direkte Sonne auf der Haut ließ die windstille Luft schon frühsommerlich warm erscheinen. Weiße, gelbe und blassrosa Blüten zierten die Bäume. Noch bunter leuchteten nur die mit Helium gefüllten Luftballons, die die Teilnehmer der Therapiegruppe erwartungsvoll in den Händen hielten. Zuvor hatte jeder seine größte, immer wiederkehrende Sorge auf ein Kärtchen geschrieben und dieses mit einer Schnur am Ballon befestigt. Lange hatte Hendrik überlegen müssen, bis er schließlich mit flinker, unleserlicher Schrift darauf geschrieben hatte: meine verbleibende Zeit nicht sinnvoll zu nutzen. Unwillkürlich hatten sich alle im Kreis um die Psychotherapeutin aufgestellt. Um sich Gehör zu verschaffen, klatschte sie in die Hände. „Sind alle soweit?“ Sie ging ein paar Schritte rückwärts und sah prüfend in die Runde. „Dann bitte ich Sie, jetzt einmal die Augen zu schließen und sich ganz fest auf den Gedanken zu konzentrieren, den Sie aufgeschrieben haben. Vertiefen Sie sich noch ein letztes Mal in diese Sorge. Und jetzt öffnen Sie die Augen, sehen Sie Ihre Sorge am Ballon angebunden und verabschieden Sie sich davon. Gleich, auf mein Kommando, lassen wir die Ballons steigen und dann sehen wir unsere Sorgen davonziehen. Also, 3, 2, 1 und los!“ Manche der Teilnehmer applaudierten. Hendrik stand nur ruhig da und sah seinem blauen Ballon zu, wie er in die Höhe trudelte und immer kleiner wurde. Weit oben erfasste ihn eine Luftströmung und trieb ihn aus seiner vertikalen Bahn nach Westen, bis Hendrik ihn nicht mehr verfolgen konnte, weil er vom gleißenden Licht der nachmittäglichen Sonne geblendet wurde. Als seine Augen endlich wieder normal sehen konnten, hatte die Therapeutin bereits Stifte und Schnüre eingesammelt und winkte ihm, ihr zu folgen. Die anderen stapften schon über die saftig grüne Frühlingswiese zur Klinik hinüber.
Inmitten der lichtdurchfluteten Eingangshalle, die zum Großteil aus einer Glas-Holz-Konstruktion bestand und mit reichlich Pflanzen ausgestattet war, die ihre teilweise schon meterhohen beblätterten Stämme der Sonne entgegen streckten, stand eine halbrunde Theke. Die freundliche Dame dahinter, die sowohl neuankommende Patienten aufnahm als auch Gästen Auskünfte erteilte, lächelte Hendrik mit freudig geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen zu. Der Professor hatte in der Zeit seines Aufenthalts bereits des Öfteren ein kleines Pläuschchen mit ihr gehalten, wenn er sie nach Ausflugszielen oder Einkaufsmöglichkeiten in der Umgebung gefragt hatte. Sie war offen und aufrichtig entgegenkommend, weshalb er die kurzen Unterhaltungen immer als angenehm empfand. Derart ausgelassen hatte sie ihn jedoch noch nie begrüßt und er überlegte, ob ihr letztes Gespräch ihr wohl irgendeinen Anlass für diese vertrauliche Beschwingtheit geliefert haben konnte. Da er sich innerlich noch eher in einer meditativen Haltung befand – das Sinnieren über seine größte Sorge, die er an den Ballon schreiben sollte, hatte ihm doch einige Anregung zur Selbstreflexion gegeben – grüßte er kurz zurück und wollte an ihr vorbei zur Treppe gehen.
„Herr Fromm, warten Sie, Sie haben Besuch!“, rief ihm die Empfangsdame hinterher. Als er sich zu ihr umdrehte, war sie bereits von ihrem Stuhl aufgesprungen und mit den größten Schritten, die ihr der enge, knielange Bleistiftrock erlaubte, auf ihn zugeeilt. „Sie haben Besuch“, wiederholte sie noch einmal, diesmal leiser und auf eine verschwörerische Art, als ob es ein Geheimnis wäre.
„Ach ja? Wer ist es denn?“ Völlig verwundert und aus seinen verträumten Gedanken gerissen, konnte sich Hendrik nicht vorstellen, wer ihn besuchen gekommen war. Vielleicht sein Bruder? Er wusste zwar, dass dieser die Praxis, die er von ihrem Vater übernommen hatte, nicht ohne weiteres schließen konnte, aber die Nachricht von Hendriks Herzinfarkt hatte ihn hörbar schockiert, als er sie ihm am Telefon mitgeteilt hatte.
„Ich weiß es nicht… das heißt er hat mir seinen Namen nicht genannt. Er hat nur nach Ihnen gefragt.“ Die Dame schien aufgeregter über seinen Besuch als Hendrik selbst. Immer noch strahlte sie ihn an.
„Na gut, und wo ist er jetzt? Hat er gesagt, wie ich ihn erreichen kann?“
„Nein, ich weiß es nicht. Er hat einfach nur nach Ihnen gefragt und als ich sagte, Sie seien gerade bei einer Therapiesitzung, hat er gesagt, er werde auf Sie warten. Aber er war sehr charmant.“ Sie errötete leicht und Hendrik wurde klar, dass es sich bei dem Besucher nicht um seinen Bruder handelte. Nicht dass dieser nicht charmant sein konnte, aber einen derartigen Effekt auf Frauen hatte nur einer, den er kannte.
„Ist er groß, schlank, hat braunes Haar und blaue Augen?“, fragte er nur noch zur Rückversicherung.
„Genau“, bestätigte die Dame mit immer noch geröteten Wangen. „Er sieht sehr gut aus, wenn ich das sagen darf.“ Sie kicherte. „Wer ist das denn? Ein Verwandter oder ein Kollege?“
Hendrik seufzte. „Ein Freund.“ Er sah sich unschlüssig in der Halle um und überlegte, wohin Magnus gegangen sein könnte, um auf ihn zu warten. Für am wahrscheinlichsten hielt er es angesichts des herrlichen Wetters, dass er sich irgendwo draußen aufhielt. Entweder im Garten der Klinik oder im Kurpark. Also ließ er die neugierige Empfangsdame stehen und trottete auf den Ausgang zu.
Hinter dem Haus wurde er fündig.
Da stand er. „Magnus, wie er leibt und lebt“, dachte der Professor. Breitbeinig, eine Hand in der Hosentasche seiner pechschwarzen Jeans stand Magnus vor einer hölzernen Sitzgruppe, auf der sich ein paar Patienten niedergelassen hatten. Er trug ein gut sitzendes, dunkelgraues Hemd, dessen lange Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren, und eine schwarze Sonnenbrille.