FRETTCHENMANN Leseprobe

Jetzt habe ich das Paket! Ich kann mein Glück über den gelungenen Coup kaum fassen.
Wie einen Schatz trage ich den handlichen, relativ leichten Karton in die Küche und lege ihn feierlich auf die Anrichte. Als ich das kleine scharfe Obstmesser aus dem Block ziehe, verspüre ich eine aufgeregte Spannung, fast könnte man es Vorfreude nennen, wie ich sie als Kind an Weihnachten angesichts der bunt verpackten Gaben unter dem Christbaum empfunden habe, nachdem mein Bruder und ich ungeduldig in unserem Zimmer darauf gewartet hatten, dass das Christkind endlich auch unseren Eltern die Geschenke für ihre Kinder überbracht haben würde.
Mit zwei glatten Schnitten durchtrenne ich das Klebeband links und rechts vom Kartondeckel, um dann mit einem beherzten Stich in die Mitte die beiden Deckelhälften voneinander zu lösen.
Drei dicke Luftpolsterkissen sind das Erste, worauf der Blick freigegeben wird. Die Spannung steigt noch einmal bis zu dem finalen Nervenkitzel kurz vor dem Abheben der Polster. Was mag sich darunter verbergen? Falschgeld? Soll ich mir eigentlich wünschen, kompromittierendes Material zu finden oder nicht?
Gustav schimpft mit einem unterdrückten Bellen, weil er nicht mitkriegt, was oben auf der Anrichte passiert.
„Pass auf“, heize ich seine Neugier noch an, „gleich werden wir wissen, was der feine Herr Weinberger sich bestellt hat. – Was ist das?“
Wie eine Schlange liegt ein Zopf aus geflochtenen, schwarzen Lederbändern am Boden des Kartons, die an einem Ende ungeflochten zu einer Quaste auslaufen. Mit spitzen Fingern greife ich danach und ziehe die Schlange heraus.
Der Lederzopf ist in einen schwarzen Kunststoffgriff gefasst, der aussieht wie der Griff eines Stockregenschirms. Ungläubig betrachte ich das Konstrukt, nachdem ich es am Griff genommen habe.
„Das ist eine Peitsche, Gustav. Schau mal.“ Ich halte ihm die Lederzotteln vor die Augen, was er als Aufforderung erachtet hineinzubeißen. „Was sagst du dazu?“
Mühsam versuche ich meine Gedanken zu ordnen, als mich das eindringliche, lange Schrillen meiner Türglocke zusammenfahren lässt. Auch Gustav lässt vom Leder ab und spitzt die Ohren. Ich schaue ihn an und lege den ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen. Gemeinsam schleichen wir zur Tür, wo ich wie immer erst einmal durch den Spion schaue, auch wenn es selten vorkommt, dass jemand schon direkt vor meiner Tür im dritten Stock steht und nicht erst unten an der Haustür auf den elektronischen Türöffner wartet. Heute ist allerdings eine dieser wenigen Gelegenheiten.
Ich öffne.
„Was machst du denn hier?“, begrüße ich Marianne überrascht.
Sie wartet nicht erst auf eine Aufforderung einzutreten, sondern marschiert mit strengem Gesicht in meinen Flur.
„Wenn du tagelang weder auf Anrufe noch auf Nachrichten reagierst, musst du dich nicht wundern, wenn man mal nach dir sieht. Aber wahrscheinlich war dir das Fernsehprogramm einmal wieder wichtiger als deine Freunde. – Nun, offenbar geht‘s dir ja gut.“ Sie bedenkt mein sorgsam ausgewähltes Outfit mit einem abschätzenden Blick, den sie von oben nach unten wandern lässt.
„Steht dir gut, wenn du dir die Haare eindrehst“, sagt sie wenig freundlich. Die Verärgerung darüber, dass ich ihr offenbar Sorgen bereitet habe und sie mich jetzt so fidel vorfindet, ist ihr deutlich anzumerken. Und sie ist verständlich. Über der ganzen Überwachungsaktion habe ich total vergessen, mich zwischendurch bei ihr zu melden.
„Du, das tut mir leid, dass ich nicht...“
„Was ist denn das?“, unterbricht sie mich schrill und zeigt auf die Lederpeitsche, die ich immer noch in meiner linken Hand halte, und an deren Zotteln sich schon wieder Gustav zu schaffen macht.
Mist, denke ich. Marianne hat aber auch einen Riecher für den falschen Moment.
„Das?“ Ich schwinge die Peitsche demonstrativ vor Gustavs Schnauze. „Das ist ein Hundespielzeug. Kennst du doch sicher so ähnlich von deiner Katze. Für die gibt es doch auch solche Angeln.“ Manchmal funktioniert das Hirn eben noch so, wie es soll, freue ich mich innerlich über meine spontane Eingebung. Gustav werde ich für seine tatkräftige Mithilfe nachher einen Strang Hundeleberwurst zukommen lassen.
„Angel“, wiederholt Marianne spöttisch. Es ist offensichtlich, dass sie mir kein Wort glaubt.
„Keine Ahnung, wie man das genau nennt“, schwindle ich weiter. „Aber schau nur, welchen Spaß es ihm macht!“ Da ich die Peitsche höher halte, stellt sich Gustav auf seine Hinterbeinchen und versucht, einen der Lederstreifen mit den Zähnen zu erwischen.
Marianne stemmt die Hände in die Hüften. „Ich kann dir schon sagen, wie man das nennt.“
In dem Moment klopft es von außen an die nur angelehnte Wohnungstür. Niemand hat im Eifer des Gefechts noch daran gedacht, sie zu schließen.
„Heidi, hier kommt der Traum deiner schlaflosen Nächte“, erklingt eine mittlerweile vertraute Männerstimme, bevor der Türspalt sich weitet und Andreas darin erscheint. In seiner ausgestreckten Hand hält er die versprochene Webcam.
„Oh hallo“, wendet er sich erstaunt an Marianne. „Sorry, ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Das mit der Kamera können wir auch später machen.“
Schon ist er bereit, sich wieder zurückzuziehen.
„Nein, nein, bleib nur.“ Ich fasse ihn beherzt mit der rechten Hand am Ellenbogen. „Das ist meine Freundin Marianne.“
„Hi, ich bin Andreas“, wendet er sich ihr zu. „Heidis Nachbar und… Komplize.“ Er lacht. „Ist sie eingeweiht?“, fragt er mich mit einer Kopfbewegung in ihre Richtung.
Das ist zu viel für Marianne. Fassungslos schaut sie von der Webcam zu Andreas und dann zu der Peitsche in meiner Hand. Ohne ein weiteres Wort verlässt sie fluchtartig meine Wohnung, wobei sie Andreas unsanft beiseite rempelt, und poltert die Treppen hinab, als wäre der Teufel hinter ihr her.