Leseprobe Fromm I

Schwer fiel die dicke Metalltür hinter ihm ins Schloss und die laute Musik war mit einem Mal nur noch entfernt durch den dumpfen Bass zu ahnen. Es schien beinahe unnatürlich still, so dass Hendrik sich wie betäubt fühlte. Er wusste nicht, ob sein Gehör ihm – vielleicht kurzfristig geschädigt durch die ungewohnte Lautstärke – einen Streich spielte oder ob es in dem kühlen Bereich tatsächlich so ruhig war. Er durchquerte den spärlich beleuchteten Vorraum zu den Toiletten. An der rechten Wand befand sich eine Reihe von Pissoirs, die an rechteckigen, matt dunkelgrauen Schieferfliesen angebracht waren und voneinander durch schmale beleuchtete Glasplatten abgetrennt wurden, die etwa bis unter die Brust reichten. Darüber begann ein Wandbild, das Ausschnitte mehrerer Türen abbildete, eine über jedem Pissoir. Altmodisch große Schlüssellöcher befanden sich genau auf Augenhöhe des Davorstehenden und gaben den Blick frei auf Bereiche von nackten Frauenkörpern wie die Taille, den Po oder die Beine. Hendrik nahm es nur im Vorbeigehen war, denn er steuerte auf eine der Kabinen zu, wo er sich würde hinsetzen können. Sie befanden sich auf der den Pissoirs gegenüberliegenden Seite und hatten weiße Türen, die aussahen als wären sie aus Milchglas. Dieser Effekt wurde dadurch erzeugt, dass auf jeder Tür ein unscharfer Schattenriss eines sich räkelnden oder posierenden Frauenkörpers abgebildet war, was suggerierte, dass den Betrachter in jeder Kabine eine Frau erwartete. Es wirkte verblüffend echt, wenn man jedoch eine Tür öffnete, sah man wieder nur auf die halbhoch angebrachten schiefergrauen Fliesen unter der hier rot gestrichenen Wand. Keine Frau. Der Professor verschloss dankbar die Tür der Kabine, setzte sich seitlich auf den geschlossenen Deckel der Toilette und lehnte seine Stirn an die kühlen dunklen Kacheln. So verharrte er einige Minuten. Er ruhte sich aus, bis sein Herzschlag sich von den ihn bedrängenden Bassschlägen beruhigt und seine Lunge einige tiefe Züge der kühlen Luft eingesogen hatte. Dann erhob er sich, um zu den Waschbecken im Vorraum zu gehen. Aber beim Aufstehen wurde ihm schwindelig, er fühlte sich benommen und wusste nicht, ob es an dem so harmlos wirkenden, aber vielleicht doch recht stark gewesenen Cocktail lag oder ob sich ein ernsthaftes gesundheitliches Problem dahinter verbarg. Langsam und unsicher bewegte er sich auf eines der Waschbecken zu. Der Hahn schien direkt aus einer der Schieferkacheln zu kommen und spendete Wasser, sobald man seine Hände unter ihn hielt. Außerdem ging dabei auch ein automatisches Licht an, das das Waschbecken und die Hände beleuchtete. Über den vier Waschbecken erstreckte sich ein riesiger Spiegel hoch bis zur Decke, und seitlich nahm er die gesamte Breite des Raumes ein. Hendrik ließ sich eiskaltes Wasser über beide Handgelenke laufen und benetzte damit auch sein Gesicht. Als er sich aufrichtete, um in den Spiegel zu sehen, erschrak er. Musste er ernsthaft an seinem Verstand zweifeln, halluzinierte er? War er verrückt geworden oder war es vielleicht doch eine Auswirkung des Alkohols? Denn was er erblickte, war nicht nur ein Abbild seines alternden, ermatteten Gesichtes. Sein eigenes Bild sah er zwar auch, aber nur ganz schwach. Es war ein Doppelbild und was ihm der Spiegel eigentlich zurückwarf, war der Anblick einer Frau, aber nicht irgendeiner Frau. Es war gewissermaßen der Inbegriff einer begehrenswerten Frau, wie er nie eine hübschere zu Gesicht bekommen hatte. Und es war nicht nur ein Bild, denn es bewegte sich. Das schöne Geschöpf blickte ihm direkt in die Augen, während es sich mit seiner zarten Hand durch die gewellten langen Haare fuhr. Hendrik machte instinktiv einen Schritt auf sie zu, doch als er sich dem Spiegel näherte und schon die Hand hob, um hinzufassen, wurde das Bild des herrlichen Wesens schwächer, er konnte es nur noch wie durch einen grauen Schleier oder Nebel wahrnehmen. Sofort trat er wieder zurück und starrte auf das nun wieder scharfe Bild: es handelte sich um ein schlankes Mädchen, die Haare reichten ihr bis an den wohlgeformten Busen, ihre grünen, von langen Wimpern umrahmten Augen waren leicht schräg geschnitten und verliehen ihrem Aussehen etwas Exotisches. Große goldene Kreolen an ihren Ohren unterstrichen den honigfarbenen Teint. Doch das am stärksten auf Hendrik Wirkende waren zweifellos ihre sinnlichen, vollen Lippen und eine Hitzewelle stieg von der Mitte des Leibes bis in sein Gesicht, als sich ihre Augen von ihm lösten, kurz nach unten blickten und ihn dann plötzlich und unvorbereitet direkt ansahen, während ihre Hand mit einem dezent roten Lippenstift aufreizend langsam erst den sinnlichen Schwung ihrer Oberlippe nachzog, bevor sie zur Unterlippe überging. Sie tat das mit einer selbstsicheren Ruhe, als fühlte sie sich völlig unbeobachtet. Der Anblick besaß für Hendrik eine schier nicht zu ertragende, aufreizende Unmittelbarkeit, weil das Objekt seiner Begierde nur etwa einen Meter von ihm entfernt war und ihn mit ihrer Handlung direkt anzusprechen schien, so als wäre alles, was sie tat, nur für ihn bestimmt und extra für ihn getan. Er zuckte am ganzen Körper zusammen, als links neben ihm die schwere Tür ins Schloss fiel. Panik ergriff ihn, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt oder ihn in einer Situation aus einem tiefen Schlummer aufgeschreckt, in der er auf keinen Fall hätte einschlafen dürfen. „Sie ist schön, nicht? Gefällt sie dir?“, fragte ihn Magnus, der offenbar in die Toilette gekommen war, um nach seinem Freund zu sehen, der nun schon länger als natürlich verschwunden war. Hendrik war zu verwirrt, um auf die rhetorische Frage etwas entgegen zu können. Sah Magnus also dasselbe im Spiegelbild wie er? Hieß das, dass er doch nicht halluzinierte oder schlief er vielleicht wirklich und hatte nur einen dieser hyperrealistischen Träume? Die Besorgnis auf Magnus‘ Gesicht wurde von einem milden Lächeln verdrängt. „Das ist ein venezianischer Spiegel, man nennt es auch Einwegspiegel. Drüben bei den Frauen haben wir Tageslichtlampen, was die Damen sehr zu schätzen wissen, weil sie so besser überprüfen können, ob das Makeup noch richtig sitzt. Hier in der Herrentoilette beleuchten wir dagegen nur schwach und indirekt. Somit können wir direkt hinüber zu den Damen sehen, ohne dass sie uns bemerken. Der Spiegel gewährt uns also einen geheimen Einblick in die Welt, die die Frauen so gerne sorgsam vor uns verbergen. Das ist so ein kleiner Gag für die Herren. Übrigens gilt es als unausgesprochene Übereinkunft unter uns, dass wir keiner Frau jemals davon erzählen.“ Da Hendrik keinerlei Reaktion zeigte, legte ihm sein Freund eine Hand auf die Schulter und fragte ernst: „Alles in Ordnung? Geht es dir nicht gut?“ Hendrik schüttelte seinen Kopf, mehr um seine Benommenheit abzuschütteln, als um eine Verneinung auszudrücken. „Nein, es geht schon wieder. Ich hatte nur eine Beklemmung in der Herzgegend, aber jetzt fühle ich mich besser.“ Er wich Magnus‘ prüfendem Blick aus und fügte eilig hinzu: „Lass uns wieder rausgehen!“ Doch bevor seine Hand den Türgriff erreichte, wandte er sich zur Seite, um noch einen letzten Blick in den Spiegel zu erhaschen. Aber das wunderschöne Bild war verschwunden. „Du wirst sie bald leibhaftig vor dir sehen“, hörte er Magnus leise sagen, bevor ihm die Musik in voller Lautstärke entgegendröhnte. Aber das Wort „leibhaftig“ hallte noch in seinem Inneren nach und ihm wurde dadurch bewusst, dass die faszinierende Erscheinung keine Halluzination, kein Produkt seines Geistes oder des Rausches war, sondern eine wirklich existierende Person. Während er so darüber nachdachte, steuerte er auf die Bar zu, wo er sich umdrehte in der Erwartung, Magnus hinter sich zu haben. Dieser jedoch war nicht wie vermutet hinter ihm hergegangen. Suchend ließ Hendrik seinen Blick durch das Gewühl im Club schweifen und drehte sich dabei nach links. Da sah er Magnus auch schon auf sich zukommen. Er hatte ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen und seinen rechten Arm um die Taille der Frau gelegt, die der Professor als Spiegelbild erblickt hatte. Sie kamen gemeinsam auf ihn zu, blieben vor ihm stehen und Magnus sagte: „Darf ich vorstellen: das ist Rita, meine Auserwählte.“