HERBSTZEITLOS Leseprobe
Die Frau, die mir gegenübersitzt, wird endlich aufgerufen. Nun sind nur noch ich und der ältere Herr im Raum, der am Fenster sitzt. Ungeduldig wippt er mit dem Fuß, sieht auf seine Uhr und fragt mich:
„Sind Sie dann auch noch vor mir dran? Da kann ich ja noch ewig warten. Wozu vergeben die eigentlich Termine, wenn sie sich doch nicht daran halten?“
„Nein, nein, keine Angst“, kann ich ihn beruhigen. „Sie sind der Nächste. Ich bin einfach viel zu früh dran.“
Die Nachricht scheint seine Laune direkt zu heben. Lächelnd beugt er sich vor und tippt sich auf den Mund. „Haben Sie etwas Ansteckendes? Wegen dem Ding da.“
Er meint die Maske. Schnell gehe ich in Gedanken durch, welche hochinfektiösen Lungenerkrankungen ich kenne. Mir fällt eigentlich nur eine ein: „Tuberkulose.“
Sein Lächeln erstirbt. Er lehnt sich zurück, wie um ein wenig mehr Abstand von mir zu gewinnen. „Wo holt man sich denn das? Ich dachte, TBC sei schon längst ausgerottet.“
Wieder muss ich mir eilig etwas ausdenken. „In Pakistan.“
Interessiert zieht mein Gesprächspartner die Augenbrauen hoch. „Was Sie nicht sagen! Und darf ich fragen, was Sie dorthin verschlagen hat? Ich meine, es ist ja nicht das klassische Urlaubsland.“
„Entwicklungshilfe“, kommt mir die nächste Lüge ganz flott über die Lippen.
„Spannend!“ Der Herr scheint fasziniert. „Erzählen Sie doch mal ein bisschen davon. Haben Sie da Schulen gebaut?“
Ich schüttle den Kopf und sage: „Krankenhäuser.“
Er lacht über die Ironie dieser Geschichte. „Und jetzt hat es Sie selber erwischt! Also, verzeihen Sie, dass ich lache. Es wird doch wieder mit Ihrer Tuberkulose?“
In der Zwischenzeit hat ein neuer Patient das Wartezimmer betreten. Er könnte im selben Alter sein wie der Täter, weist aber sonst keinerlei Ähnlichkeit mit ihm auf. Auf die Frage des älteren Herrn hin starrt auch er mich nun schockiert an.
„Nein“, entgegne ich trocken. „Es sieht schlecht aus.“